Montag, 23. September 2013

Augenblicke

Ich schaue auf die Armbanduhr meines Nachbarn. 8.37. Die U-Bahn ist voll. Die beiden steigen zusammen ein. Sind sie Arbeitskollegen? Aber nein!. Sie trägt einen schweren grauen Mantel, einen roten Schal, der Lippenstift ist ein wenig zu rot, das Haar lang. Seins ist schon grau. Viel reden sie nicht auf der kurzen Reise durch den Untergrund. Sie liest die Berliner Zeitung, während ihn der Kulturteil des Tagesspiegels vollkommen in seinen Bann gezogen hat. Die Bahn hält. Menschen strömen hinaus in den kalten Januartag. Auch sie steht schnell auf um auszusteigen, streift den Mantel glatt. Sie sagt „Heute Abend beim Inder“ -oder war es „Ich liebe dich“ ? Sie küsst ihn nicht , sondern wuschelt dem Mann verspielt durch das Haar- mein Kleiner. Flüchtig nur sieht er auf. Nach einigem Zögern bleibt sie auf dem hektischen Bahnsteig stehen und wartet darauf, dass der Blick des Geliebten sie ein letztes Mal für den heutigen Morgen trifft. Er schlägt das linke Bein über das rechte und liest den Kulturteil des Tagesspiegels. 4 Sekunden verstreichen und ich beobachte sie eine Ewigkeit. Endlich dreht sie sich um und steigt langsam die Treppe hinauf. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen und lächle melancholisch- tief berührt von so viel Liebe und so viel Enttäuschung in einem Augenblick.  
Lisa

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